Der EuGH hat in seinem Urteil vom 28.10.2021 (C-357/20) den Umfang des Schutzes für bestimmte Tierarten präzisiert, und zwar konkret zum Feldhamster.
Der Ausgangsfall spielt in Wien. Dort hatte ein Bauträger mit Bautätigkeiten auf einem Grundstück begonnen, auf dem sich der Feldhamster (Cricetus cricetus), eine nach Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie geschützte Art, angesiedelt hatte. Bevor mit den eigentlichen Bauarbeiten begonnen worden war, hatte der Bauträger ohne vorherige Genehmigung durch die österreichischen Behörden Maßnahmen durchgeführt, mit denen er den Hamster vergrämen wollte. Die Hamster sollten durch diese Maßnahmen insbesondere vertrieben und so auf eigens für sie geschützte Flächen umgelenkt werden. Dabei wurden mindestens zwei Hamsterbaueingänge zerstört.
Der Magistrat der Stadt Wien verhängte gegen den Bauträger bzw. dessen Subunternehmer eine Geldstrafe, weil er unbefugt Ruhe- oder Fortpflanzungsstätten des Feldhamsters beschädigt/vernichtet habe. Jener Subunternehmer war damit nicht einverstanden und führt Beschwerde beim Verwaltungsgericht Wien. Das Verwaltungsgericht hat in jenem Verfahren einen Vorlagebeschluss gefasst und den EuGH gebeten, sowohl zum räumlichen als auch zum zeitlichen Geltungsbereich des Begriffs „Fortpflanzungsstätte“ sowie zu den Kriterien für die Unterscheidung zwischen der „Beschädigung“ und der „Vernichtung“ einer Fortpflanzungs- und/oder Ruhestätte i.S.v. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie zu befragen.
Der EuGH nimmt eine grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung des Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie vor und entscheidet exemplarisch zum Feldhamster:
Erstens stellt er zum Wortlaut dieser Bestimmung fest, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung die notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten verbietet.
Zweitens weist der Gerichtshof zum Regelungszusammenhang dieser Bestimmung darauf hingewiesen, dass das darin enthaltene Verbot darauf abzielt, die ökologische Funktionalität von Fortpflanzungsstätten zu sichern und wichtige Teile des Lebensraums der geschützten Tierarten so zu erhalten, dass diese Arten die u. a. für die Fortpflanzung erforderlichen Bedingungen vorfinden können. Folglich sei der Begriff „Fortpflanzungsstätte“ dahin zu verstehen, dass er alle Gebiete umfasst, die erforderlich sind, damit sich die betreffende Tierart erfolgreich fortpflanzen kann, einschließlich des Umfelds der Fortpflanzungsstätte.
Diese Auslegung sieht der EuGH durch die Ziele der Habitatrichtlinie bestätigt. Die Habitatrichtlinie zielt nämlich zur Erhaltung der Biodiversität darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Union zu bewahren oder wiederherzustellen. Folglich muss es das in Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Schutzsystem ermöglichen, eine Beeinträchtigung des Lebensraums der geschützten Tierarten tatsächlich zu verhindern.
Eine Auslegung des Begriffs „Fortpflanzungsstätte“ dahin, dass er nur die Baue des Feldhamsters umfasst, kann – so der EuGH weiter – aber dazu führen, dass Gebiete, die für die Fortpflanzung und die Geburt der Jungtiere dieser Tierart erforderlich sind, von diesem Schutz ausgenommen werden. Außerdem würde der Schutz einer Fortpflanzungsstätte seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn im Umfeld dieser Fortpflanzungsstätte menschliche Aktivitäten bezweckten oder bewirkten, dass diese Tierart die betreffende Fortpflanzungsstätte nicht mehr aufsucht.
Was sodann den zeitlichen Geltungsbereich des Schutzes der Fortpflanzungsstätten anbelangt, versteht der Gerichtshof diesen – so wie den zeitlichen Geltungsbereich des Begriffs „Ruhestätte“ – weit.
Damit der nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie gewährte strenge Schutz gewährleistet ist, müssen demnach die Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart so lange Schutz genießen, wie dies für eine erfolgreiche Fortpflanzung dieser Tierart erforderlich ist. Unter diesem Blickwinkel erstreckt sich der darin vorgesehene Schutz auch auf Fortpflanzungsstätten, die nicht mehr genutzt werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Stätten zurückkehrt, um sich fortzupflanzen.
Schließlich stellt der Gerichtshof das Kriterium für die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Beschädigung“ und „Vernichtung“ einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie klar.
Unter Berücksichtigung des Sinns dieser Begriffe nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, ihres Regelungszusammenhangs und der mit der Habitatrichtlinie verfolgten Ziele gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Grad der Beeinträchtigung der ökologischen Funktionalität einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte unabhängig davon, ob sie absichtlich erfolgt oder nicht, das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung zwischen einer Handlung, die zu einer Verschlechterung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätte führt, und einer Handlung, die zu ihrer Vernichtung führt, darstellt. Zur Klärung dieser Frage seien die ökologischen Bedürfnisse der betroffenen Tierart sowie die Situation der Individuen dieser Tierart, die die fragliche Fortpflanzungs- oder Ruhestätte nutzen, zu berücksichtigen.
Folglich sind die Begriffe, so der EuGH, die Begriffe „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass sie die schrittweise Verringerung der ökologischen Funktionalität einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte einer geschützten Tierart bzw. den vollständigen Verlust dieser Funktionalität bezeichnen, wobei es keine Rolle spielt, ob derartige Beeinträchtigungen absichtlich erfolgen.